Geburt im Wandel
Unsere Geburtskultur hat sich innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten dramatisch verändert. Geburt in Berlin sprach mit der mehrfach ausgezeichneten Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. Marita Metz-Becker vom Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Philipps Universität Marburg.
(Interview: Simone Forster)
Abb.: © freestocks/www.unsplash.com
Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Geburten bei uns zu über 98 Prozent in die Kliniken verlagert haben?
Prof. Dr. Marita Metz-Becker: Nach dem Aufkommen der Entbindungshäuser nach französischem Vorbild (den Accouchieranstalten) im 18. Jahrhundert ist in den 1960er Jahren die Geburtshilfe endgültig in den Kliniken gelandet. Waren zuvor auf dem Land noch die Hausgeburten allgegenwärtig, änderte sich das von heute auf morgen, weil Mitte der 60er Jahre die Krankenkassen die Geburt im Krankenhaus voll übernommen haben.
Wie war es denn für die Frauen, die sich in den 60er/70er Jahren für Klinikgeburten entschieden?
Prof. Dr. Marita Metz-Becker: Was in den Kliniken der 60er Jahre los war, war alles andere als Hätschelatmosphäre. Es kam viel Kritik auf. Vor allem, dass beim klinischen Setting die Frau als Patientin auf dem Rücken liegt und alle anderen was an ihr machten. Ideen von Odent, Leboyer und Lamaze konnten Fuß fassen, in denen die „sanfte Geburt“ ins Spiel gebracht wurde. Ein Signal dafür war auch, dass in den 80ern Geburtshäuser wie Pilze aus dem Boden sprossen.
Wie würden Sie unsere heutige Geburtskultur beschreiben?
Prof. Dr. Marita Metz-Becker: Waren die Frauen früher noch in guter Hoffnung, so sind es die Schwangeren in den 2020er Jahren nicht mehr. Eine Hebamme, die in einer Uniklinik arbeitet, äußerte mir gegenüber, dass die Schwangeren sagen ‚Macht mal.‘ Sie wollen, dass ihr Kind geholt wird. Viele verlangen schon beim Reinkommen eine PDA aus Angst vor Schmerzen. So wird Geburt heute geradezu konsumiert. In der Klinik gerät dann oft sofort eine Interventionskaskade in Gang. Erst Wehentropf, dann Wehenhemmer, Schmerzmittel, PDA bis hin zur Saugglocke oder zum Kaiserschnitt. Sowie aber mit Chemie in das Geburtsgeschehen reingefunkt wird, kommt der eigene Hormoncocktail der Frau durcheinander und sie wird nur noch von außen dirigiert.
Welche Rolle spielen die Hebammen bei alledem?
Prof. Dr. Marita Metz-Becker: Immer mehr geben die Geburtshilfe ganz auf. Denn die hohen Versicherungskosten, die hierfür anfallen, können viele Hebammen nicht länger tragen. Sie bekommen jetzt zwar Zuschüsse, müssen aber trotzdem finanziell in Vorleistung treten. Dabei ist die Rolle der Hebamme extrem wichtig. Die Hebammen sind für das Gesunde, für das Physiologische zuständig. Der Arzt hat einen anderen Blickwinkel, er will Krankes gesund machen. Was ebenfalls problematisch ist, ist die Zentralisierung von Geburt.
Inwiefern?
Prof. Dr. Marita Metz-Becker: Es gibt immer mehr große Hightech-Geburtszentren mit zum Teil hohen Kaiserschnittraten anstatt viele kleinere Entbindungskliniken. Man darf den Kaiserschnitt als eine große Bauchöffnung nicht unterschätzen, die vermieden werden sollte, wenn es möglich ist. Es gibt bereits Studien, die zeigen, dass Kaiserschnittgeborene häufiger Diabetes, andere Krankheiten und psychische Probleme entwickeln. Aber mit dem Kaiserschnitt verdient man nun mal mehr. Ich will nicht unterstellen, dass das der Hauptgrund ist, in Unikliniken werden ja auch viele Risikofälle behandelt, aber es wird häufig nicht der Körper der Frau oder die Psyche der Kinder betrachtet.
Welche Erfahrungen haben die Frauen, die Sie im Rahmen Ihrer Forschungsarbeit interviewt haben, gemacht?
Prof. Dr. Marita Metz-Becker: Generell gibt es viele Frauen, die davon über-zeugt sind, die Ärzte wissen besser, wie es ihnen und ihren Babys geht als sie selbst. Ich habe zum Beispiel eine junge Mutter interviewt, die andauernd ein neues Ultraschallbild von ihrem Kind brauchte. Sie sagte: „Das war so schön, wenn ich das Kind in der Handtasche bei mir habe.“ Ich habe mich dann gewundert: „Du hattest das Kind doch in deinem Bauch?“ Sie war ihrem Kind schon so nah, wie es niemand anders sein konnte. Aber sie war so entfremdet von ihrem eigenen Körper, dass sie dem Bild in der Handtasche mehr traute als sich selbst. Eine andere Frau hat mir erzählt, dass sie ihr erstes Kind mit Kaiserschnitt bekommen und sehr darunter gelitten hat. Sie wollte unbedingt wieder ein Kind und es normal kriegen. Nach zwei Jahren hat sie ein weiteres Mal entbunden, dieses Mal im Geburtshaus. Sie sagte: „Ich brauchte meine Tochter, um zu heilen. Ich bin an diesem Kind geheilt.“ Und zum Glück gibt es auch noch einige Hausgeburtshebammen, die über Mund zu Mund Propaganda so gut „gebucht“ werden und so viel verdienen, dass sie davon leben können.
Und wie geht es jetzt weiter?
Prof. Dr. Marita Metz-Becker: Flächendeckendere hebammengeführte Kreißsäle sowie eine hebammengeleitete Schwangerenvorsorge wären gut. Es geht darum, die Schwangeren in ihrem Selbstvertrauen zu stärken und sie nicht primär als Patientinnen zu sehen. Wünschenswert wäre es außerdem, dass der Staat die Hebammen-Haftpflicht übernimmt und dem Zentralisierungstrend der Geburtshilfe entgegenwirkt. Nur so kann die Wahlfreiheit des Geburtsortes langfristig bestehen bleiben.
Mehr zum Thema:
- https://lisa.gerdahenkel-stiftung.de (Stichwort Geburtskulturen)
- Buchtipp: „Drei Generationen Hebammenalltag. Wandel der Gebärkultur in Deutschland“ von Marita Metz-Becker, 2021, Psychosozial-Verlag, www.psychosozial-verlag.de
Weitere Infos, wie man sich für eine selbstbestimmte Geburtshilfe engagieren kann:
- mother-hood.de
- www.normale-geburt.de
- www.hebammenfuerdeutschland.de
Prof. Dr. Marita Metz-Becker